Page 13 - Kat_Schach-u-Religion_Leseprobe
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Kunstform, ist gleichsam die zu Papier gebrachte Inspi- 3 Der Turm in der linken Ecke ist
ration an sich. Es sind keine Oberflächen ausgearbeitet, „die Hoffnung mit dem Anker“.
natürlich keine Farben, keine Schatten, lediglich Schat- 4 Der Turm in der rechten Ecke ist
tierungen. Mit weniger Mitteln als einer Linie lässt sich „die Wahrheit mit leuchtender Fackel
keine Idee, keine Inspiration in ein Bild verwandeln. und spiegelndem Schild, steht nächst
Naturgemäß muss umgekehrt jede einzelne Linie absolut der Hoffnung als Roche zur Seite“.
präzise gesetzt sein. Jede Linie ist bedeutungstragend 5
und wichtig für das Bild. Die nächsten vier Figuren sind nicht
eindeutig zuzuordnen, vor allem auch
Die Spielfiguren und ihre Bedeutung deshalb, weil sie nicht mehr am Spielfeld
stehen, sondern sich bereits geschlagen
Kommen wir nun zu den Schachfi- neben dem Schachbrett befinden.
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guren. Retzsch gehört zu den wenigen
Künstlern, die nicht nur eine Szene dar- 5 Der „Friede mit der Palme“.
gestellt haben, in der Schach gespielt wird, 6
sondern die für das Bild auch eigene 6 Die „Demuth, gesenkten Hauptes
Schachfiguren entworfen haben. In die- betend, spärlich bekleidet“.
sem Fall bilden die Schachfiguren sogar 1
das eigentliche Zentrum des Bildes. 7 Die „Unschuld, ein nacktes Kind,
Retzsch hat ein wundervolles Schachset jedem die Arme zutraulich entgegen-
entworfen, das es wohl wert wäre, ein- streckend“.
mal tatsächlich gebaut zu werden. Be-
trachten wir zunächst die weißen Steine, 8 Die „Liebe, zwei sich umfassende 7
jeweils in der originalen Beschreibung Kinder, Wang´ an Wange geschmiegt,
von Miltitz vorgestellt: über beiden ein Stern ruhend“.
1 „Der König ist die Seele des Menschen. 2 9 „Die Bauern werden hier durch ge-
Diese Figur steht wie ein verängstigtes flügelte, betende Engelsköpfe, welche das
Seelchen am Rande, „ein weites Ge- Gebet bezeichnen, angedeutet.“
wand fest und ängstlich an sich ziehend, 8
Schmetterlingsflügel an den Schultern”. Kommen wir nun zu den schwarzen
Spielfiguren. Sie sind umfangreicher be-
2 „Die Königin ist die Religion,...eine schrieben, wie generell in der Literatur
hohe majestätische Gestalt mit grossen Sünden und Laster schöpferisch ergie-
Schwingen, die eine Hand schützend vor- 3 biger sind als Tugenden. 9
gestreckt und in der andern das Zeichen
der Versöhnung tragend.“ 10 „Die Figur des Königs auf Satans
Hier ist ein wunderschöner Über set- Seite stellt ihn selbst dar, tief in den
zungs fehler passiert, im englischen Teil Mantel gehüllt, aber dennoch auf den
des Hefts lesen wir: „The Queen... ersten Blick kenntlich.“
holding in the other [hand] the sign of
Expiation.“ Sie trägt also kein versöhn- 11 „Seine Königin ist – die Wollust;
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liches Zeichen, sondern das Zeichen eine üppige Frauengestalt mit entblöss- 10
der Buße oder Sühne. 4 tem Busen, die linke Hand zieht das
Gewand scharf an die reizenden For-
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