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Religion und das Schachspiel
eine ambivalente Beziehung, dargelegt
an Beispielen
Herbert Bastian
s ist eine Beziehung, die nun schon etwa lernen, es gab keine Vierteilung der verurteilten Krimi-
1400 Jahre besteht, viele Krisen durchgemacht nellen ...“
hat, mit Trennungsversuchen gescheitert ist, Unumstritten ist die These von der indischen Her-
E Phasen der Leidenschaft erlebte, im Grunde kunft nicht, weil überzeugende archäologische Funde zur
aber immer von einer stabilen Zuneigung gekennzeich- Bestätigung bisher fehlen. Gesichert ist hingegen die Prä-
net war. Eine Beziehung zwischen zwei Kulturfaktoren senz des Spieles im 7. Jahrhundert in Persien unter dem
mit Welt umspannender Bedeutung. So unterschiedlich Namen Chatrang, der aus dem indischen Chaturanga
diese beiden Faktoren sein mögen, sie haben etwas ge- abgeleitet sein dürfte.
meinsam: Beide geben ihren Anhängern Halt und etwas Der französische Historiker Nicolas Fréret (1688 - 1749)
Familiäres. Die Rede ist von der Religion und vom hielt am 24. Juli 1719 in der Académie des Inscriptions et
Schachspiel. Belles-Lettres in Paris im Beisein des Königs Ludwig XV.
einen Vortrag, für den er die Legende zur Entstehung
Herkunft und Deutungen des des Schachspiels ausgewählt hatte. Fréret behauptete,
Schachspiels dass die Perser sich nicht als die Erfinder des Schach-
spiels ansähen, sondern es in der Regierungszeit des
Das Schachspiel wurde wahrscheinlich im 6. Jahr- Sassaniden-Königs Chosraus I. (531 - 579) von einer in-
hundert in Nordindien erfunden, wobei es Elemente dischen Delegation des Königs Divsaram, Radscha von
von Vorläuferspielen in sich vereinigte und Chaturanga Hindustan, erhalten hätten. 1
(= das Viergeteilte) genannt wurde. Das war zugleich Ausgangspunkt dieser Geschichte sind zwei historische
die Bezeichnung für das indische Heer mit den vier Quellen. Die ältere, die über die bloße Nennung des
Waffengattungen Infanterie (Bauern), Kriegselefanten Spiels hinausgeht und zwischen dem 6. und 9. Jahrhun-
(Läufer), Kavallerie (Springer) und Streitwagen (Türme). dert datiert, ist der in mittelpersisch verfasste Text Die
Geführt wurde das Ganze vom König und seinem Be- Erklärung von Schach und die Erfindung von Nard, auch
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rater, der später (1475) in Form der Dame zur mäch- bekannt als Buch vom Schach. Gemäß dieser Geschich-
tigsten Figur wurde. te wurde das als Kriegsspiel bezeichnete Chatrang als
Die älteste Erwähnung von Chaturanga in indischen Geschenk und Herausforderung zugleich nach Persien
Sanskrit-Texten findet sich in der Harshacharita, ge- gebracht. Fast dieselbe Geschichte findet sich viele Jahre
schrieben vom indischen Hofpoeten Bana um 625 - 640. später im persischen Nationalepos Schahname des Dichters
Es ist die Geschichte des Königs Shrî Harsha von Firdausi wieder. Nach den Erzählungen soll Bozorgmehr,
Kanauj (606 - 647), der über ein mächtiges Königreich der persische Kanzler und Leibarzt Chosraus, die Spiel-
im Tal des Ganges herrschte und dafür bekannt war, weise herausgefunden haben, wodurch der indische Kö-
zum Buddhismus konvertiert zu sein. Bana beschreibt nig tributpflichtig wurde. Die Handlung der Erzählungen
den Frieden, der dadurch im ganzen Lande einkehrte: passt in die Zeit zwischen 565 und 579, in der sich die
„Unter diesem Herrscher stritten nur die Bienen, Regierungszeiten der beiden beteiligten Herrscher aus
um den Honigtau zu sammeln; die einzigen Füße, die Indien (560 - 585) und Persien (531 - 579) überlappten.
abgeschnitten wurden, waren die der Maße, und nur vom Das Schachspiel war von Anfang an mehr als nur
Ashtâpada konnte man die Aufstellung des Chaturanga ein Abbild des Krieges. An seiner Konzeption waren
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